Johannes Brahms (aus op. 62). Die Formation bewies abermals ihre Brahms-Kompetenz: Trotzdes hohen Anspruchs der Kompositionen vermochte sie die angemessene Illusion einer volksliedhaften Schlichtheit zu wahren.
Chorleiter Bernhard Gärtner gestaltete vor allem im Bereich der Dynamik, ohne dabei Texte und Stimmungsgehalt der Lieder zu vernachlässigen. Wie getupft
wehte der Nachtwind in Brahms’ erster "Nachtwache", der Rückert-Adaption aus den Gesängen op. 104.
"Herbst" lautete der Titel des Konzerts. In Mendelssohns "Herbstlied" – a cappella wie die meisten Chorbeiträge des Abends – verspricht das Waldesrauschen tröstliche Frühlingshoffnung. Herbst - er steht für Abschied. "Lebewohl" wird dem Liebenden in Hugo Distlers Mörike-Vertonung zugesprochen. Ein Werk von 1939, aus dem Herbst der Menschenrechte. Für sie plädierte Wolfgang Rihm 1982: "Mit geschlossenem Mund" ist ein Summchor auf den Konsonanten "m".
Unausgesprochene Fragen nach in der argentinischen Militärdiktatur verschwundenen Menschen: Sie werden hier zu Klängen.
Überraschend konservativ zeigt sich Karlheinz Stockhausen in seinem
Frühwerk "Die Nachtigall" (mit beweglichem Solosopran aus dem Chor: Johanna Allevato)…Der Anton-Webern-Chor verfügt über leuchtende Soprane, eine wunderbare Altfraktion, helle Tenöre und wahrlich profunde Bässe. Die jungen Mitglieder sind studierte Sangesleute. Mit Sololiedern und Duetten bereicherten sie das Programm, etwa Noémie Bousquet (Sopran) mit Gabriel Faurés Lied "Automne". Der Pianist Philip Rivinius war ein inspirierter Begleiter, auch beim
Chor mit den Brahms-Quartetten op. 92. Ein abwechslungsreicher Abend, der jedoch mehr Publikumszuspruch verdient gehabt hätte.
Badische Zeitung, 12.10.2022
Von der Art des Ewigen
Der Anton-Webern-Chor in der Freiburger Ludwigskirche
Ein Programm mit nur zwei verschiedenen vertonten Texten von gerade drei verschiedene Generationen umfassenden Komponisten – wie sehr kann dies anderthalb Stunden hindurch fesseln? Der Anton-Webern-Chor und sein Ensemble präsentierten unter Leitung von Bernhard Gärtner ein wohldisponiertes Programm mit hoher technischer Raffinesse in der Freiburger Ludwigskirche.
Auf der Suche nach einer passenden Ergänzung zum Magnificat Bachs, welches für das Orgelfestival in Masevaux am 22. Juli von den Veranstaltern zur Eröffnung gewünscht wurde, stieß man auf das Te Deum Michel-Richard Delalandes. Der Nachfolger Lullys am französischen Königshof war zugleich eine Inspiration für Bach. Die Komposition, eine Grand Motet, besteht aus einem Wechselspiel aus Ensemblesätzen und Soloarien. Im Tutti bewiesen die Aufführenden ebenso ausgewogenen Klang und Präzision wie in den solistischen Einlagen, so etwa im Wechselspiel zwischen Sopran und Oboe in der nur vom Continuo begleitenden Arie "Tu Rex gloriae". Neben dem Einsatz historischer Instrumente und der originalen Praxis, dass Solisten zugleich Chorsänger sind, sorgten auch die genau abgestimmten Tempi, welche aus Dauerangaben des Komponisten abgeleitet wurden, für ein sehr überzeugendes Spiel.
Badische Zeitung, 25.07.2018
Eine Lilie unter den Distlen
Bernhard Gärtner und der Anton-Webern-Chor
Anderthalb Stunden, hochkonzentriert und prall gefüllt. 18 Werke von 15 Komponisten. Das "Canticum Canticorum", das "Lied der Lieder" oder, laut Luther, das "Hohelied" als Stofflieferant, die unverblümte Feier der Erotik, sanktioniert vom Alten Testament. Im Mittelpunkt zwei, die nicht müde werden, einander zu preisen: "Du bist schön, meine Freundin", oder "Eine Lilie unter den Disteln". Die jeweils acht Sängerinnen und Sänger des Freiburger Anton-Webern-Chors unter Bernhard Gärtner zelebrieren ein Hochamt des Kollektivgesangs mit Solo-Momenten. Anders mag’s gehen, besser nicht.
Was in der Christuskirche auf Anhieb gefangen nimmt, ist die Reinheit dieses Singens, auch die Unangestrengtheit, die Unaffektiertheit. Was sofort auffällt, ist der kantable Fluss, der sich auch in den weniger übersichtlichen Passagen nicht verliert und nie auf äußerliche Wirkungen aus ist. Exponierte Ausrufezeichen der Musik sind wie selbstverständlich in den vokalen Verlauf eingebunden. Wo der Tonfall der Werke bei Edvard Grieg etwa an norwegische, bei Vytautas Miškinis an baltische Volksmusik andockt, weisen Gärtner und seine Sängerinnen und Sänger zeigefingerfrei darauf hin. Und auch die formale Erscheinung der Werke zwischen Renaissance und – zurückhaltender – Moderne ist kongenial erfasst.
Es ist insgesamt ein Singen, das das vokale Feinheitsgebot beherzigt, und auch eines, das, wo nötig, beinahe schon überraschend großes Volumen aufbringt. Ob bei Heinrich Schütz, Leonhard Lechner oder Johann Herrmann Schein – was wir hören, pendelt sich zwischen dynamischem Verschweben und herzhaft angegangenen größeren Klangkurven ein. Wunderbar, wie da Tongirlanden ausschwingen, wie da harmonische Reibungen bewusst ausgekostet werden.
Badische Zeitung, 17.05.2017
Ungeheuer beweglich
Der Anton-Webern-Chor mit Bernhard Gärtner
Die schnarrende Wehklage des Cellos: wie ein schmerzlicher Nachruf. Noch immer ist der Verlust des Gründers und Leiters Hans Michael Beuerle greifbar, der Anfang 2015 starb – beim Publikum, das den Chor seit Jahren begleitet, wie auch bei den Sängerinnen und Sängern des Anton-Webern-Chors Freiburg, reflektiert in den markerschütternden Zwischenspielen aus Werken der modernen Komponisten Arthur Gelbrun und Paul Ben-Haim durch die Cellistin Gesine Queyras.
Nicht weniger besonders wurde die Atmosphäre dadurch, dass das renommierte Ensemble in Freiburgs Maria-Hilf-Kirche nun erstmals offiziell unter Leitung von Bernhard Gärtner, einst selbst Beuerle-Schüler, zu hören war. Denn obgleich Gärtner bereits interimsmäßig als Chef agierte: Das erste Konzertprogramm als designierter Nachfolger generiert eine andere Erwartungshaltung. Dieses liest sich nicht grundlos wie das originäre Selbstverständnis des Ensembles: zeitlich und stilistisch wie selbstverständlich zwischen Psalm-Motetten aus "Fontana d’Israel" (besser bekannt als "Israelsbrünnlein") des frühbarocken Thomaskantors Johann Hermann Schein und zwei Werken aus der Trilogie op. 50 Arnold Schönbergs changierend. Da entläd sich eine Welt.
Immer ist es jene ungeheure Flexibilität in der Interpretationskultur des Anton-Webern-Chors, die fasziniert: Gerade noch im Strom polyphoner Sturzbäche mäandernd, die sich wellenförmig, aber ohne Reibungsverlust zu einer energisch-expressiven Architektur zusammenfügen (in Perfektion bei Scheins "Wende dich, Herr, und sei mir gnädig" oder "Die mit Tränen säen"), fängt das Ensemble ohne Umgewöhnungszeit in Schönbergs "Dreimal tausend Jahre" op. 50a passgenau eine in dissonanter Unendlichkeit gefangene Starrheit ein. Da lässt Gärtner jeder Stimmgruppe ihr Profil, im Gesamtklang verschmelzend, doch mit interpretatorischen Freiheiten: Gerade das Madrigalische der Schein-Motetten kann so zur Geltung kommen. Exemplarisch dafür steht der Ausdruckswille in den Gesichtern der Männerstimmen in "Drei schöne Ding": ein einziges Grinsen, das völlige Identifikation mit der Interpretation von Musik und Text signalisiert – und in dem sich musikalisch eine Welt entlädt.
Gärtner ist wohl der richtige Mann am richtigen Fleck – ein Konservativer im besten Sinne des Wortes: einer, der wie Beuerle weiß, wie und wann man welches gestalterische Mittel optimal nutzen kann und vor allem: welche Freiheiten ein Ensemble hierfür benötigt.
Badische Zeitung 27.09.2016
Erstaunliche Flexibilität
Freiburg: Anton-Webern-Chor unter Bernhard Gärtner
Es sind zwei ganz unterschiedliche Versionen des "Ave maris stella" ("Sei gegrüßt, Meeresstern"), mit denen der Anton-Webern-Chor sein Konzert in der Freiburger Herz-Jesu-Kirche beginnt. Die Fassung für Orgel von Nicolas de Grigny und Gregorianik ist schlicht und kontemplativ, die andere von Guillaume Dufay entwickelt eine spannungsreiche Polyphonie. Unter der präzisen Leitung von Bernhard Gärtner, einem Freund und Schüler des zu Jahresbeginn verstorbenen Chorgründers Hans Michael Beuerle, gelingt dem Chor der Wechsel zwischen den verschiedenen Stilen mühelos. Die Zuhörer erleben ein anspruchsvolles marianisches Programm, das auf höchstem Niveau dargeboten wird.
Im Anschluss an das Stück von Dufay erklingt Arvo Pärts "Magnificat" – ein gewaltiger Sprung um fünf Jahrhunderte, bei dem nicht zuletzt die Ähnlichkeiten zwischen den Komponisten deutlich werden. Auch bei Pärt sind es die harmonischen Reibungen, die flirrenden und vom Chor exakt intonierten Sekundschritte, die eine faszinierende Wirkung entfalten. Bemerkenswert auch, wie flexibel Chor und Organist dabei den Kirchenraum nutzen und sich auf die Akustik des Ortes einlassen…Es ist nicht zuletzt diese erstaunliche Flexibilität, die das große musikalische Potenzial des Chores ausmacht.
Badische Zeitung Freiburg 08.09.2015